> Startseite | Wir sind da! Aleviten an der Schule
16.04.2014

Wir sind da! Aleviten an der Schule

Kaum jemand kann sich etwas unter dem Alevitentum vorstellen. Dennoch hat die Glaubensgemeinschaft ihren eigenen Religionsunterricht in NRW – und das seit 2008.


Hand hoch, Hand runter, Schritt vor, Schritt vor. Langsam drehen sich die Kinder im Kreis, jeweils eine Hand zeigt andächtig gegen die Decke des Klassenzimmers. Sie haben die Bewegungen gut einstudiert, und auch der wildeste Rabauke ist ausnahmsweise ruhig. Dies ist keine pädagogische Maßnahme gegen zu langes Sitzen im Unterricht, dies ist ein religiöses Ritual. Der Semah hat bei den Aleviten eine Tradition, die weit in die Vergangenheit reicht. Er symbolisiert die Einheit von Gott, Mensch und Natur. Hier im alevitischen Religionsunterricht erfahren die Schüler mehr darüber – und was ihren Glauben so ausmacht.

“Was ist nochmal unser Leitsatz?”, fragt Frau Tuna, die Lehrerin, in die Runde. Die Kinder strecken eifrig ihre Finger in die Höhe. Melissa darf antworten: “Beherrsche deine Hände, deine… äh, Lenden, und deine Zunge.” “Sehr schön”, sagt Birgül Tuna, “Und was bedeutet das für uns?” “Dass wir nichts kaputt machen sollen – und nicht schlagen”, platzt Asmen herein. Frau Tuna lächelt. “Ja, zum Beispiel.”

Etwa 15 Grundschüler scharen sich um Birgül Tuna. Eigentlich ist sie Technik- und Mathematiklehrerin an einer Realschule, doch vier Stunden in der Woche unterrichtet sie an der Gerhard-Hauptmann-Grundschule und an der Gesamtschule in Bergkamen Religionsunterricht. Alevitischen Religionsunterricht. “Ich selbst komme aus einer geistlichen Familie, und möchte meine Tradition und meinen Glauben weitergeben”, sagt Frau Tuna. Ihr Glaube bedeutet für sie, dass Gott sich in jedem Menschen zeigt. Grundsätze wie “Der Dienst am Menschen ist der Gottesdienst” prägen das Alevitentum. Äußerlichkeiten dagegen sind der größtenteils türkischen Glaubensgemeinschaft fremd.


Das Alevitentum ist schwierig einzugrenzen. Ebenso wie die Schiiten, die die Mehrheit im heutigen Iran bilden, sind die Aleviten Anhänger des Imam Alis, und unterscheiden sich damit von den sunnitischen Muslimen. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt in der Türkei, wo sie in der Geschichte oft benachteiligt und verfolgt wurden. Bis heute sind die Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und der Glaubensgemeinschaft nicht gut. Ein Großteil der Aleviten sieht sich in ihrer Entwicklung als eigenständige Religionsgemeinschaft. Seit 2008 wird sie als solche in Deutschland gesetzlich anerkannt – und hatte schon vor den Muslimen einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht, eingeführt noch in demselben Schuljahr.

Frau Tuna war im ersten Jahrgang der Lehrer, die durch eine einjährige Fortbildung den Religionsunterricht erteilen dürfen. “Wir haben die Lehrmaterialien selbst zusammengestellt”, sagt die studierte Techniklehrerin. “Es gab ja vorher nichts.” Auf dem Programm stehen zum Beispiel alevitische Glaubensprinzipien, interreligiöser Dialog und Feiertage. “Der Lehrplan ist ganz ohne persönliche Einflüsse. Ich gebe keine Wertungen ab. Hier im Unterricht ist es auch egal, ob man religiös aufgewachsen ist oder nicht – danach frage ich nicht.”

Heute sollen die Kinder Feiertage verschiedenen Religionen zuordnen – Ob die Muslime wohl Jomkippur feiern? Verträumt malt Helin auf ihrem Arbeitsblatt herum. Dafür, dass der Unterricht um zwei Uhr nachmittags beginnt, sind die Grundschüler erstaunlich ruhig. “Es ist immer wieder eine Herausforderung, mit den Kindern nachmittags Unterricht zu gestalten”, lacht Birgül Tuna, “doch sie sind eigentlich immer motiviert und freuen sich auf die Zeit hier.”

Während der regulären Schulzeit kann der alevitische Unterricht nicht stattfinden, denn die Lehrerin muss ihre anderen Fächer auch noch unterrichten. Für sie ist der Dienstag ein anstrengender Tag. Sie pendelt zwischen ihren Schülern an der Realschule und den quirligen Kindern, zwischen Naturwissenschaften und Religion. “Am Anfang habe ich mich sehr schwer getan mit dem Alterswechsel. Meine anderen Schüler sind teilweise erwachsen – plötzlich hatte ich Kinder vor mir. Die erste Zeit habe ich die Kleinen gesiezt”, sagt Birgül Tuna schmunzelnd.

Insgesamt zwei Stunden pro Schule bekommen sie und ihre Kollegen wöchentlich für den Religionsunterricht freigestellt – dabei ist der Bedarf ihrer Meinung nach viel höher. “Das Problem ist, dass viele Schulleiter ihre Lehrer nicht hergeben wollen, da sie ja für die anderen Fächer gebraucht werden.”

Dieses Problem sieht auch Melek Yildiz, Seminarleiterin der Fortbildung für alevitische Religionslehrer in NRW. “Ingesamt gibt es nur 23 Lehrkräfte, die wir einsetzen können”, sagt die Studienrätin. Derzeit werden landesweit etwa 300 Grundschüler unterrichtet – dazu kommen seit Februar 2012 noch weiterführende Schulen. “Wir haben so viele potentielle Lehrkräfte, denen Hindernisse im Weg liegen – zum Beispiel, dass sie verbeamtet sein müssen, um die Fortbildung zum alevitischen Religionsunterricht antreten zu können.”

Melek Yildiz, die selbst Religionsunterricht an zwei Grundschulen unterrichtet, sieht jedoch enorme Vorteile in dem Unterrichtsmodell – für Schüler und Lehrer. “Einige Aleviten bekennen sich nicht zu ihrer Religion – aufgrund unserer Vorgeschichte haben einige Angst, sich zu outen. Der Unterricht führt dazu, dass sie in ihrer Identität gestärkt werden.” Das beobachtet auch Birgül Tuna: “Den Kindern tut der Unterricht so gut. Viele meiner Schüler entwickeln dadurch ein stärkeres Selbstbewusstsein – sie wissen, wer sie sind.”

Cuma-Ali zum Beispiel. Der Drittklässer erzählt von seinen Freunden, die in die Moschee gehen. “Ihnen erzähle ich nicht so viel, wo ich hingehe”, sagt der 9-Jährige. “Aber ich bete im Cem-Haus.” Wie alle Kinder freut er sich immer auf Dienstagnachmittag bei Frau Tuna. Ehrfürchtig hören sie, was die Lehrerin ihnen vom Aschura-Fest erzählt – alle, auch Asmen. Eigentlich geht der aufgeweckte 9-Jährige auf eine Förderschule. Hier im Unterricht sitzt er neben dem schüchternen Erencem und hilft dem Erstklässer, die Namen der Feiertage auf ein Arbeitsblatt zu krakeln. Seine Hand führt die kleine seines Nachbarn, ungestüm und gleichzeitig geduldig. Der Satz, den die Kinder auswendig gelernt haben, kommt in Erinnerung: “Der Dienst am Menschen ist der Gottesdienst.”

 

Miriam Grün
Artikel erschienen in Forum Schule (Ausgabe Dez 2012)

Bilder: Alex Büttner